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Du hast Dein Versprechen gebrochen!

Geschrieben von jaana am 24. Juli 2018

Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Du hast Dein Versprechen gebrochen!

** Blogpostreihe des Interdisziplinären Projekts Soziale Lebens- und Problemlagen 2.0 **

Liebe Ana,erinnerst Du Dich an mich? Wir haben uns vor 2 Jahren kennengelernt. Du hast mir damals geschrieben und Dich vorgestellt, hast mir gesagt, durch Dich würde ich glücklich, Du würdest meine Freundin sein.Ana, das war gelogen. Durch Dich habe ich nicht an Glück gewonnen, sondern alles verloren. Nicht nur mein Gewicht, sondern auch meine Freunde, meine Zeit, meinen Lebenswillen. Du bist keine Freundin, du bist eine Krankheit. Diagnostiziert wirst Du nach ICD-10 und DSM 5 bei einem Body Mass Index unter 17,5 – wenn die Panik vor dem Essen das Leben bestimmt und man selbst nicht mehr erkennt, wie krank und abgemagert man eigentlich ist. Sport, Kalorienzählen und Angst vor jedem neuen Gramm am Körper. Aber in meinem Kopf warst Du viel tiefer. Und nicht nur in meinem.Im Internet gibt es Tausende von uns, wenn nicht sogar mehr. Tausenden, denen Du ins Ohr geflüstert und etwas vorgemacht hast. Die Diagnose „Anorexia Nervosa“ bekommen laut Statista mehr Frauen als Männer, Teenager und junge Erwachsene wie ich sind am häufigsten betroffen. Hier im Internet, wo sie Dich Ana nennen – wo ich Dich Ana genannt habe – ist es vor allem eine junge Generation, die du verführt hast. Foren voll mit Tipps, „inspirierende Bilder“ mit abgemagerten Frauen, Strategien zur Verheimlichung, Chats, in denen sich gegenseitig angestachelt wird.Viel habe ich von Dir gelernt: die richtige Methode sich zu erbrechen, die Kalorienanzahl in einem 3cm großen Stück Gurke und wie ich Abführmittel nehmen muss, um das Mittagessen „loszuwerden“, was ich unter strenger Beobachtung in der Klinik einnahm.Denn das, Ana, ist wo ich dank Dir gelandet bin. Nicht dünn, nicht engelsgleich, nicht kontrolliert, sondern krank in einer Psychiatrie, in der mein Herz mein Blut nicht mehr richtig zu meinen Organen pumpen konnte und ich nur noch daran dachte, was ich als nächstes (nicht) esse und wo ein neues Gramm Fett hinzukommen sein könnte. Die Waage und das Maßband ersetzten meine Freunde, während meine Haare auf meinem Kopf ausfielen und auf meinen Armen wuchsen, um mich warm zu halten. Meine Knochen wurden brüchig und ich konnte nachts vor Herzrasen nicht mehr schlafen. Ich war kurz vorm Tod, aber meine einzige Sorge war das Fett an meinem Körper, das ich mir einbildete, das Du mir einflüstertest. „Dünn sein ist wichtiger als gesund sein“ schreiben Sie auf den Seiten!Ich will nicht lügen, Ana, Du hast mir über eine Zeit hinweggeholfen, in der es mir schlecht ging. Die Trennung meiner Eltern, den Missbrauch. Und für diesen Moment, für diese Zeit, hat es mir geholfen, dass ich mich an Dir und den Foren, den Chats, den Richtlinien und Deinen Gesetzen festhalten konnte. Sie machten mir Mut, motivierten mich und gaben mir zu verstehen, dass ich nicht alleine bin und dass ich einen Wert und einen Platz habe – solange ich dünn bin, versteht sich. Ich liebte, wie die anderen mich anfeuerten, wie wir uns gegenseitig anspornten.Aber Du warst nie meine Freundin, nie meine Verbündete, nie auch nur irgendetwas Positives in meinem Leben, auch wenn ich das erst später erkannt habe. Du hast mir sowie allen aus den Foren und Blogs Schreckliches angetan. Langsam wird auch die breite Masse auf dich aufmerksam. Manche Seitenbetreiber verbieten Dich und deine Inhalte, die diese Störungen verherrlichen. Auch der Jugendschutz kann die Seiten deiner Anhänger auf Gefährdungspotenzial prüfen, wenn sie gemeldet werden. Natürlich, jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung – und trotzdem: ich wünschte bloß, ich wäre niemals auf einer Deiner Seiten gelandet, Ana.Dank dir war ich monatelang in der Klinik, alle hatten Angst, ich würde Dich nicht überleben. Ich habe neu lernen müssen, wie man isst, wie man sich am Leben hält und sich nicht dafür hasst.Heute brauche ich Dich nicht mehr, Dich und das Leid, das Du mir verursacht hast. Ich habe wieder Freunde, Menschen die mir helfen, die mir neue Seiten gezeigt haben, die mich Schritt für Schritt in der Therapie und der Bewältigung meiner Vergangenheit begleitet haben. Hätte ich weiter auf Dich gehört, wäre ich verhungert, ich wäre tot. Und heute überlebe ich nicht nur, sondern lebe.Du hast Dein Versprechen gebrochen, Ana, so wie ich meins an Dich. Sicher, es ist schlecht ein Versprechen zu brechen, aber noch schlechter ist es, sich davon brechen zu lassen.Ich kann Dich nicht mehr flüstern hören.Schweig still.Betroffene können Hilfe finden unter:https://www.bzga-essstoerungen.de/informationen/essstoerungen-im-ueberblick/magersucht/https://www.anad.de/essstoerungen/magersucht-anorexia-nervosa/(Beitrag von Alexandra Jurk, Pauline Harth, Michelle Schiffner, Maike Orthen; Foto: Jairo Alzate – unsplash.com)

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