Im Zuge der
Corona-Krise kommt es zu vielseitigen Eingriffen in das öffentliche Leben und
in den Alltag aller Menschen. Die Virusinfektion Covid-19 fordert die gesamte
Gesellschaft. Kurzarbeit, Ladenschließungen, Kündigungen, Geldnot und viele
weitere Schlagworte geistern derzeit durch die Medien und sind in aller Munde.
Aber auch Wörter wie Solidarität, Ideenreichtum, Digitalisierung und Chance
werden oft verwendet. Dazu passt die aktuell viel zitierte Aussage des
Schweizer Schriftstellers Max Frisch:
„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Was die Entwicklungen für eine Zeit nach Corona in Hinblick auf die Wissenschaft und die Lehre an der Hochschule ergeben könnten, versuchen die Lehrenden der HSN in einer Gastbeitragsserie zu beantworten. Als dritter Beitrag in der Serie „Betrachtungen zur Corona-Krise“ äußern sich die Professoren Dr. Bassler und Dr. Seidel, vom Institut für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung (ISRV), zu den Auswirkungen auf die Gesellschaft und Gesundheit.
Trotz großer und durchaus berechtigter Sorgen vieler
Menschen um ihre wirtschaftliche Existenz besteht doch ein ungebrochener
Konsens darüber, dass auch in dieser schweren Krise die Gesundheit der Menschen
vor allen ökonomischen Interessen rangiert. Dieser grundsätzliche Wertekonflikt
erfordert für die nächsten Monate einen den jeweils gegebenen Umständen
entsprechenden Balanceakt zwischen restriktiven Vorsichtsmaßnahmen und
schrittweiser Lockerung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lockdowns –
durchaus vergleichbar einem Tanz auf dem Vulkan. Insgesamt scheint es so, dass
die Covid-19 Pandemie in allen Gesellschaften schon vorher bestehende Konflikte
offenlegt und nicht selten in ihrer Dynamik verschärft. Jedoch sind dabei nicht
zwangsläufig nur negative Auswirkungen zu befürchten, wie jede Krise kann auch
eine positive nachhaltige Neubesinnung bezüglich erstrebenswerter Ziele und
ethischer Werte erfolgen, an denen sich die Gesellschaft künftig orientieren
möchte.
Insofern kann jede Krise trotz aller psychosozialer Belastung auch eine Chance
sein, bisher für selbstverständlich gehaltene Grundsätze und Verhaltensweisen
kritisch zu überdenken und Neues zu wagen.
Welche gesellschaftlichen
Veränderungen könnten sich für die Zeit nach überstandener Covid-19 Pandemie
ergeben? Im Folgenden sollen thesenartig
einige Aspekte skizziert werden, die aus psychosozialer Perspektive sich
nachhaltig verändern könnten:
Eine wesentliche – in manchem sicher
grundsätzliche – gesellschaftliche Debatte wird klären müssen, bis zu welchem
Grad systemrelevante Dienstleistungen privatisiert bzw. zukünftig wieder mehr in
die Obhut öffentlich-rechtlicher Trägerschaft kommen sollen. Die
dahinterstehende Problematik zeigt sich besonders im Gesundheitswesen, dessen
personelle und apparative Ausstattung sich in den vergangenen Jahren zu sehr
ökonomischen Interessen unterordnen musste, was in Krisenzeiten sehr schnell
Versorgungsengpässe bzw. Systemüberforderung bedingt. In wirtschaftlich
durchaus mit Deutschland vergleichbaren Ländern, wo diese negative Entwicklung noch
ausgeprägter verlief, dokumentiert sich dies in trauriger Weise an der hohen
Zahl von tödlich verlaufenden Corona-Infektionen, wie dies aktuell
beispielsweise in England der Fall ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang
auch die schwierige personelle Situation in den Alten- und Pflegeheimen, was
gravierende negative Folgen für die Betreuung bzw. Pflege der dort lebenden
älteren Menschen nach sich zieht. Zusammenfassend
wird die grundsätzliche Frage neu zu beantworten sein, in welchem Umfang der
Sozialstaat künftig die Fürsorge für seine Bevölkerung wahrnehmen möchte und wie
sehr die Bevölkerung bereit ist, hierfür durch ihr solidarisches
Steueraufkommen die erforderlichen finanziellen Ressourcen bereitzustellen. Insgesamt
ist zu erwarten, dass die seit langem kontrovers diskutierte Frage einer
angemessenen Bezahlung für soziale Berufe mit sehr viel stärkerer Dynamik neu
auf die politische Agenda gesetzt wird – vielen Menschen wird in dieser Zeit
bewusst, wie sehr ein solidarisches Gemeinwesen auf soziale Dienstleistungen
angewiesen ist und welche Wertschätzung (auch in finanzieller Hinsicht) dem
besser als bisher gerecht wird.
Es ist zu erwarten, dass wir uns um psychische (Langzeit-) Folgen dieser negativen Einflussfaktoren sowohl bei den hiervon betroffenen Kindern als auch Erwachsenen langfristig kümmern müssen. Hier werden auf verschiedenen Ebenen vermehrt Hilfsangebote erforderlich sein, deren Spektrum von niederschwelliger ambulanter Beratung bis hin zur spezialisierten stationären Behandlung reichen sollte (z.B. im stationären Bereich psychosomatische Krankenhaus- oder Rehabilitationsbehandlung, Mutter-Kind-Kuren). In Studien zu längerdauernder Quarantäne wurde gezeigt, dass ein erheblicher Prozentsatz der Betroffenen psychische Auffälligkeiten entwickelte, darunter nicht wenige auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die wirtschaftlichen Folgen der
Covid-19 Pandemie lassen sich derzeit noch nicht genauer einschätzen, da diese im
starken Maße davon beeinflusst werden, wie sich die Zahl der Neuinfektionen im
Rahmen der schrittweisen Lockerung der Kontaktrestriktionen entwickeln. Eine
nachhaltige Stabilisierung und Vorhersagbarkeit der Situation wird erst möglich
sein, wenn erfolgversprechende Medikamente und Impfstoffe verfügbar sind – bis
dahin wird gewissermaßen „auf Sicht“ geplant werden müssen. Damit die
schrittweisen Lockerungsmaßnahmen wirksam greifen und aufrechterhalten werden
können, bedarf es eines geschärften Bewusstseins aller für ihre
Eigenverantwortung im Umgang mit der Covid-19 Pandemie. Hierzu ist eine
fortdauernde intensive Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit aller politisch
Verantwortlichen und Fachexpert*Innen erforderlich, wozu auch eine transparent
geführte kritische Reflexion der Angemessenheit der jeweils empfohlenen bzw.
verordneten Restriktionsmaßnamen gehört. Sobald die unmittelbare Bedrohungslage
durch die Covid-19 Pandemie bewältigt sein wird, ist davon auszugehen, dass
sich die Weltwirtschaft mittel- und langfristig auf erhebliche strukturelle
Veränderungen einstellen muss, wobei Globalisierung im bisherigen Sinne durch
eine „neue Globalisierung“ abgelöst werden könnte, welche sich durch mehr „autonom-ökologische Strukturen größerer
Sozialräume“ auszeichnet.
Die intensive individuelle und
gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie könnte auch dazu
führen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Bewertungen in Zukunft mehr
Beachtung in der Bevölkerung finden. Komplexe Probleme bedürfen einer
differenzierten Analyse und entsprechend wissenschaftlich fundierter
Entscheidungen. Um hierfür mehr gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen,
braucht es insbesondere Vertrauen in die Kompetenz fachlich ausgewiesener Expert*Innen,
insbesondere wenn es um erfolgreiches Analysieren, Verstehen, Antizipieren und konkrete
Lösungsvorschläge für globale Herausforderungen wie beispielsweise den
Klimawandel geht. Vielleicht kann die Corona-Pandemie auch hier eine Chance
sein, die zu einer neuen Form des gesellschaftlichen Dialogs führt, um auch
kontroverse Positionen zu komplexen Fragen bzw. Problemlagen sachlich
angemessen und fair miteinander zu diskutieren statt der trügerischen Versuchung
nach einfachen Antworten zu erliegen, die sich bei kritischer Überprüfung bisher
nur zu oft als bloße Irreführung bzw. gezielte „fake news“ ohne Wahrheitswert herausstellten.
Vielleicht könnte die Covid-19 Pandemie
auch dafür sensibilisieren, wie zerbrechlich unsere komplexe und global
vernetzte Zivilisation trotz aller technischen Errungenschaften ist. Die Zeit
der Kontaktbeschränkung mögen manche auch dazu nutzen, sich mehr auf sich
selbst zu besinnen, darauf, was für sie wirklich zählt. Entschleunigung des
täglichen Lebens, mehr achtsamer Umgang mit sich und anderen, bewusster Leben
und mehr Wertschätzung für die Schönheit der Natur, mehr Klimabewusstsein,
ressourcenschonendes und nachhaltiges Wirtschaften, weniger Ferntourismus, mehr
(globale) Solidarität zur Bekämpfung von Hunger und Armut, u.a.m.,
könnten beispielhaft Themen sein, die wichtiger als bisher werden
könnten, aber auch die Gefahr von größerer Abschottung und populistischen
Tendenzen mit Gefährdung der demokratischen Freiheitsrechte. Zu erwähnen ist in
diesem Zusammenhang auch, dass wir bei aller aktueller Bedrohung durch die
Covid-19 Pandemie nicht die großen Herausforderungen vergessen, die dringend
unseres engagierten Handelns bedürfen, um unseren nachkommenden Generationen
einen lebenswerte Umwelt hinterlassen zu
können.
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