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Betrachtungen zur Corona-Krise 3/4

Geschrieben von maximilian am 12. Mai 2020

Allgemein

Betrachtungen zur Corona-Krise 3/4

Im Zuge der Corona-Krise kommt es zu vielseitigen Eingriffen in das öffentliche Leben und in den Alltag aller Menschen. Die Virusinfektion Covid-19 fordert die gesamte Gesellschaft. Kurzarbeit, Ladenschließungen, Kündigungen, Geldnot und viele weitere Schlagworte geistern derzeit durch die Medien und sind in aller Munde. Aber auch Wörter wie Solidarität, Ideenreichtum, Digitalisierung und Chance werden oft verwendet. Dazu passt die aktuell viel zitierte Aussage des Schweizer Schriftstellers Max Frisch: 

„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Was die Entwicklungen für eine Zeit nach Corona in Hinblick auf die Wissenschaft und die Lehre an der Hochschule ergeben könnten, versuchen die Lehrenden der HSN in einer Gastbeitragsserie zu beantworten. Als dritter Beitrag in der Serie „Betrachtungen zur Corona-Krise“ äußern sich die Professoren Dr. Bassler und Dr. Seidel, vom Institut für Sozialmedizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung (ISRV), zu den Auswirkungen auf die Gesellschaft und Gesundheit.

Trotz großer und durchaus berechtigter Sorgen vieler Menschen um ihre wirtschaftliche Existenz besteht doch ein ungebrochener Konsens darüber, dass auch in dieser schweren Krise die Gesundheit der Menschen vor allen ökonomischen Interessen rangiert. Dieser grundsätzliche Wertekonflikt erfordert für die nächsten Monate einen den jeweils gegebenen Umständen entsprechenden Balanceakt zwischen restriktiven Vorsichtsmaßnahmen und schrittweiser Lockerung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lockdowns – durchaus vergleichbar einem Tanz auf dem Vulkan. Insgesamt scheint es so, dass die Covid-19 Pandemie in allen Gesellschaften schon vorher bestehende Konflikte offenlegt und nicht selten in ihrer Dynamik verschärft. Jedoch sind dabei nicht zwangsläufig nur negative Auswirkungen zu befürchten, wie jede Krise kann auch eine positive nachhaltige Neubesinnung bezüglich erstrebenswerter Ziele und ethischer Werte erfolgen, an denen sich die Gesellschaft künftig orientieren möchte. Insofern kann jede Krise trotz aller psychosozialer Belastung auch eine Chance sein, bisher für selbstverständlich gehaltene Grundsätze und Verhaltensweisen kritisch zu überdenken und Neues zu wagen.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen könnten sich für die Zeit nach überstandener Covid-19 Pandemie ergeben?  Im Folgenden sollen thesenartig einige Aspekte skizziert werden, die aus psychosozialer Perspektive sich nachhaltig verändern könnten:

  • Eine wesentliche – in manchem sicher grundsätzliche – gesellschaftliche Debatte wird klären müssen, bis zu welchem Grad systemrelevante Dienstleistungen privatisiert bzw. zukünftig wieder mehr in die Obhut öffentlich-rechtlicher Trägerschaft kommen sollen. Die dahinterstehende Problematik zeigt sich besonders im Gesundheitswesen, dessen personelle und apparative Ausstattung sich in den vergangenen Jahren zu sehr ökonomischen Interessen unterordnen musste, was in Krisenzeiten sehr schnell Versorgungsengpässe bzw. Systemüberforderung bedingt. In wirtschaftlich durchaus mit Deutschland vergleichbaren Ländern, wo diese negative Entwicklung noch ausgeprägter verlief, dokumentiert sich dies in trauriger Weise an der hohen Zahl von tödlich verlaufenden Corona-Infektionen, wie dies aktuell beispielsweise in England der Fall ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die schwierige personelle Situation in den Alten- und Pflegeheimen, was gravierende negative Folgen für die Betreuung bzw. Pflege der dort lebenden älteren Menschen nach sich zieht.  Zusammenfassend wird die grundsätzliche Frage neu zu beantworten sein, in welchem Umfang der Sozialstaat künftig die Fürsorge für seine Bevölkerung wahrnehmen möchte und wie sehr die Bevölkerung bereit ist, hierfür durch ihr solidarisches Steueraufkommen die erforderlichen finanziellen Ressourcen bereitzustellen. Insgesamt ist zu erwarten, dass die seit langem kontrovers diskutierte Frage einer angemessenen Bezahlung für soziale Berufe mit sehr viel stärkerer Dynamik neu auf die politische Agenda gesetzt wird – vielen Menschen wird in dieser Zeit bewusst, wie sehr ein solidarisches Gemeinwesen auf soziale Dienstleistungen angewiesen ist und welche Wertschätzung (auch in finanzieller Hinsicht) dem besser als bisher gerecht wird.
  • Es ist zu erwarten, dass wir uns um psychische (Langzeit-) Folgen dieser negativen Einflussfaktoren sowohl bei den hiervon betroffenen Kindern als auch Erwachsenen langfristig kümmern müssen. Hier werden auf verschiedenen Ebenen vermehrt Hilfsangebote erforderlich sein, deren Spektrum von niederschwelliger ambulanter Beratung bis hin zur spezialisierten stationären Behandlung reichen sollte (z.B. im stationären Bereich psychosomatische Krankenhaus- oder Rehabilitationsbehandlung, Mutter-Kind-Kuren). In Studien zu längerdauernder Quarantäne wurde gezeigt, dass ein erheblicher Prozentsatz der Betroffenen psychische Auffälligkeiten entwickelte, darunter nicht wenige auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.
  • Die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Pandemie lassen sich derzeit noch nicht genauer einschätzen, da diese im starken Maße davon beeinflusst werden, wie sich die Zahl der Neuinfektionen im Rahmen der schrittweisen Lockerung der Kontaktrestriktionen entwickeln. Eine nachhaltige Stabilisierung und Vorhersagbarkeit der Situation wird erst möglich sein, wenn erfolgversprechende Medikamente und Impfstoffe verfügbar sind – bis dahin wird gewissermaßen „auf Sicht“ geplant werden müssen. Damit die schrittweisen Lockerungsmaßnahmen wirksam greifen und aufrechterhalten werden können, bedarf es eines geschärften Bewusstseins aller für ihre Eigenverantwortung im Umgang mit der Covid-19 Pandemie. Hierzu ist eine fortdauernde intensive Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit aller politisch Verantwortlichen und Fachexpert*Innen erforderlich, wozu auch eine transparent geführte kritische Reflexion der Angemessenheit der jeweils empfohlenen bzw. verordneten Restriktionsmaßnamen gehört. Sobald die unmittelbare Bedrohungslage durch die Covid-19 Pandemie bewältigt sein wird, ist davon auszugehen, dass sich die Weltwirtschaft mittel- und langfristig auf erhebliche strukturelle Veränderungen einstellen muss, wobei Globalisierung im bisherigen Sinne durch eine „neue Globalisierung“ abgelöst werden könnte, welche sich durch mehr  „autonom-ökologische Strukturen größerer Sozialräume“ auszeichnet.
  • Die intensive individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie könnte auch dazu führen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Bewertungen in Zukunft mehr Beachtung in der Bevölkerung finden. Komplexe Probleme bedürfen einer differenzierten Analyse und entsprechend wissenschaftlich fundierter Entscheidungen. Um hierfür mehr gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen, braucht es insbesondere Vertrauen in die Kompetenz fachlich ausgewiesener Expert*Innen, insbesondere wenn es um erfolgreiches Analysieren, Verstehen, Antizipieren und konkrete Lösungsvorschläge für globale Herausforderungen wie beispielsweise den Klimawandel geht. Vielleicht kann die Corona-Pandemie auch hier eine Chance sein, die zu einer neuen Form des gesellschaftlichen Dialogs führt, um auch kontroverse Positionen zu komplexen Fragen bzw. Problemlagen sachlich angemessen und fair miteinander zu diskutieren statt der trügerischen Versuchung nach einfachen Antworten zu erliegen, die sich bei kritischer Überprüfung bisher nur zu oft als bloße Irreführung bzw. gezielte „fake news“ ohne Wahrheitswert herausstellten.   
  • Vielleicht könnte die Covid-19 Pandemie auch dafür sensibilisieren, wie zerbrechlich unsere komplexe und global vernetzte Zivilisation trotz aller technischen Errungenschaften ist. Die Zeit der Kontaktbeschränkung mögen manche auch dazu nutzen, sich mehr auf sich selbst zu besinnen, darauf, was für sie wirklich zählt. Entschleunigung des täglichen Lebens, mehr achtsamer Umgang mit sich und anderen, bewusster Leben und mehr Wertschätzung für die Schönheit der Natur, mehr Klimabewusstsein, ressourcenschonendes und nachhaltiges Wirtschaften, weniger Ferntourismus, mehr (globale) Solidarität zur Bekämpfung von Hunger und Armut,  u.a.m.,  könnten beispielhaft Themen sein, die wichtiger als bisher werden könnten, aber auch die Gefahr von größerer Abschottung und populistischen Tendenzen mit Gefährdung der demokratischen Freiheitsrechte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass wir bei aller aktueller Bedrohung durch die Covid-19 Pandemie nicht die großen Herausforderungen vergessen, die dringend unseres engagierten Handelns bedürfen, um unseren nachkommenden Generationen einen  lebenswerte Umwelt hinterlassen zu können.      

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