Startseite » Wohin mit meinem Schlafsack?

Wohin mit meinem Schlafsack?

Geschrieben von jaana am 16. Juli 2018

Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Wohin mit meinem Schlafsack?

** Blogpostreihe des Interdisziplinären Projekts Soziale Lebens- und Problemlagen 2.0 **

Anja, eine obdachlose Berlinerin, fällt eigentlich nicht besonders auf. Kaum jemand würde wohl erahnen, dass die 40-jährige keine Wohnung hat und die Nächte unter einer Brücke verbringt. In der Vergangenheit hat sie Wirtschaft studiert und jahrelang in einem erfolgreichen Unternehmen gearbeitet. Heute lebt sie von Arbeitslosengeld II. Wenn wir Menschen wie Anja auf der Straße begegnen, gehen unsere Blicke häufig an ihnen vorbei oder wir weichen aus. Nur für einen kurzen Moment denken wir manchmal “Oh man, wie halten die das nur aus?”. Besonders bei extremen Wetterbedingungen wie Starkregen, Minusgraden oder auch Hitzewellen ist ihre Situation für uns unvorstellbar. Hinter jedem einzelnen Gesicht verbergen sich die verschiedensten Geschichten und Hintergründe.Was wir zunächst gar nicht wussten war, dass Wohnungslosigkeit nicht gleich bedeutet, dass die Betroffenen auf der Straße übernachten. Im Gegensatz zu obdachlosen Menschen wie Anja, die ohne jegliche Unterkunft in Verschlägen, Parks oder unter Brücken schlafen, verfügen wohnungslose Menschen über keinen Mietvertrag, der ihnen eine sichere Wohnstätte verschaffen würde. Sie kommen deshalb bei Freunden oder Verwandten unter, schlafen in Notunterkünften, in Garagen oder Wohnwägen.Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. gibt es in Deutschland geschätzt 390.000 erwachsene Wohnungslose, davon sind 290.000 Männer und 100.000 Frauen. Zusätzlich sind rund 32.000 Kinder und Jugendliche wohnungslos.Doch wie kann es überhaupt so weit kommen? Es sind die unterschiedlichsten Krisen und Lebenslagen, die Menschen aus der Bahn werfen. „In meinem Fall sind meine Eltern gestorben und da wusste ich auch erst mal nicht weiter…und konnte auch nicht weiter. Und damals war es für mich einfach nicht anders möglich.“ Anja verlor zuerst ihre Familie, dann ihren Job und dann die Wohnung.Zunächst einmal verlieren die Betroffenen nicht von heute auf morgen ihr zu Hause; die Gründe dafür sind vielschichtig. Ausgangspunkt sind häufig soziale, persönliche oder finanzielle Probleme wie eine Scheidung oder Trennung, ein Unfall, eine Krankheit, der Tod eines Angehörigen oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Weitere Faktoren können eine materiell und wirtschaftlich schlechte Ausgangslage bzw. auch ein schlechterer Zugang zu Bildung sein. Außerdem führen Sucht oder psychische Erkrankungen häufig dazu, dass Menschen ihre Wohnung verlieren, genauso wie das aktuell sehr präsente Thema der zunehmenden Gentrifizierung, was bedeutet, dass die eigentlich ansässigen BewohnerInnen eines Stadtteils auf Grund von Mietpreissteigerungen an die Stadtränder bzw. in weniger attraktive Stadtteile, und damit auch weg von ihrem sozialen Umfeld, gedrängt werden. Das Risiko auf Grund einer der genannten Faktoren tatsächlich in die Wohnungslosigkeit zu geraten ist natürlich auch von individuellen Ressourcen abhängig. Fehlt in solch prekären Situationen dann auch noch der notwendige soziale Rückhalt, steigt die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches.Doch welchen Möglichkeiten stehen den Betroffenen als Hilfen zur Verfügung? Menschen wie Anja, die aktuell auf der Straße leben, haben die Möglichkeit Lebensmittel und Kleidung über die Suppenküchen, die Tafel und Kleiderkammern zu beziehen. Für die medizinische Versorgung stehen vor allem in Großstädten kostenlose mobile (Zahn-)Arztpraxen zur Verfügung, die Bahnhöfe oder andere Treffpunkte anfahren. Ab den Abendstunden öffnen die Notübernachtungsstätte in denen die Betroffenen bis zu drei Nächte am Stück verbringen können. Tagsüber bieten Tagesstätten, Tagescafés und Straßentreffs eine kostenlose und unverbindliche Möglichkeit zu Essen und zu Trinken, Wäsche zu waschen und erste niedrigschwellige Kontakte zu SozialarbeiterInnen zu knüpfen. Eben diese sind elementar für die Rückkehr in eine eigene Wohnung. In speziellen Beratungsstellen bieten sie Hilfestellung für die Beantragung von Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen, für anhängige Strafverfahren oder zur Wohnungsfindung. Was aber viele Obdachlose immer noch vermissen ist der Respekt der vorbeigehenden Menschen. Von Beschimpfungen bis hin zum Anspucken hat auch Anja schon einiges erlebt. All das trifft sie sehr, denn sie ist ein Mensch wie jeder andere auch. Deswegen schenke doch der nächsten obdachlosen Person, an der du vorbeiläufst, einfach mal ein Lächeln oder überlege, was ihm oder ihr helfen könnte. Es wird den Tag ein Stückchen besser machen.(Beitrag von Carolin Eberhardt-Schramm, Fabian Kieras & Katharina Adler; Foto: Jon Tyson – unsplash.com)

Archiv