Startseite » Gesundheit für alle? Eine kritische Betrachtung

Gesundheit für alle? Eine kritische Betrachtung

Geschrieben von am 2. Juli 2021

Allgemein

Gesundheit für alle? Eine kritische Betrachtung

GuS-Studentin Nicole Romanus berichtet über ihre Eindrücke vom Kongress “Armut und Gesundheit”

Nach der kurzfristigen Absage des Kongresses im letzten Jahr freute ich (Nicole Romanus, Studentin GuS) mich sehr, in diesem März online zum dritten Mal dabei sein zu können. Bislang konnte ich aus den besuchten Veranstaltungen während der Kongresstage immer sehr viel Neues und spannende Eindrücke mitnehmen. Natürlich sind die Diskussionen in der realen Begegnung intensiver und kontroverser gewesen und auch die Themenauswahl spiegelte in diesem Jahr wider, was Corona gesamtgesellschaftlich ausgelöst hat. Mein Lieblingsthema „Inklusion“, was mich sowohl aus fachlicher als auch aus persönlicher Betroffenheit in den letzten Jahren hauptsächlich interessiert, ist auf einige wenige Veranstaltungen auf dem Kongress 2021 zusammengeschrumpft und verdeutlicht damit die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung vor dem Pandemiehintergrund nur noch als „Risikogruppe“ definiert und diskutiert werden, so dass das veraltete und häufig menschenrechtsverletzende medizinische Modell der Behinderung freie Fahrt hat/ hatte.  Von daher möchte ich euch mitnehmen in die Veranstaltung „Gesundheit – aber nicht für alle? Sozialdarwinistische Diskurse in Zeiten von Corona“.

Den ersten Vortrag mit dem Titel „Gesellschaftliche Altersdiskurse in der Pandemie – zwischen Altersfreundlichkeit und Altersfeindlichkeit?“, gehalten von Andreas Stückler, einem österreichischen Soziologen, in dem Altersdiskurse im deutschsprachigen Raum aus alterssoziologischer Sicht im Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschafts- und Denkweise dargestellt wurden, kann ich hier nicht auslassen, weil sich Argumentationslinien ähneln oder sogar gleichen, egal, ob es um alte Menschen oder Menschen mit Behinderung geht. Hierbei lässt sich der Widerspruch beobachten, dass alte Menschen als Risikogruppe für einen schweren oder tödlichen Verlauf einer Coronainfektion definiert und damit als besonders schützenswert deklariert werden, andererseits aber gefragt wird, ob wir uns diesen Schutz des Lebens von alten Menschen (unausgesprochen bleibt meistens: „die vielleicht eh nicht mehr lange zu leben haben…“) wirtschaftlich überhaupt leisten können. Hier wird also auf sozialdarwinistische Weise der Lebenswert eines Menschen von seinem wirtschaftlichen Nutzen in der weiteren Zukunft und seiner produktiven Verwertbarkeit vor dem Hintergrund eines kapitalistischen Wirtschaftssystems in Frage gestellt und letztlich negiert. Die gesellschaftlichen Rufe von Arbeitgeber:innen und  Arbeitnehmer:innen, die die Last der Coronamaßnahmen zum Schutze der Risikogruppe zu tragen glauben, zur Rückkehr zur „Normalität“ werden lauter, die Berechnungen und Diskussionen um „Wirtschaft versus Menschenleben“ (Stückler) werden hitziger und zum Teil mit einem menschenverachtenden Unterton geführt, der die junge Generation gezielt gegen die ältere ausspielt. Die Äußerung des Boris Palmer „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, scheint da nur die Spitze des Eisbergs zu sein.  Alte Menschen werden so zu Sündenböcken für die Krise gemacht durch die primäre Begründung von Coronamaßnahmen „zum Schutz vulnerabler Gruppen“.

Diese utilitaristischen Denkweisen stehen auch hinter ganz konkreten Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, z.B. bei der Verlegung und Behandlung von infizierten alten Menschen aus Pflegeheimen ins Krankenhaus oder die altersmäßige Begrenzung von intensivmedizinischer Versorgung (Triage), so dass hier eine „latent altersfeindliche“ (Stückler) Stimmung in konkreten Maßnahmen zum Ausdruck kommt.

Diese Überlegungen griff Rebecca Maskos, Psychologin aus Bremen und selbst behinderungserfahren, in ihrem Beitrag „Die Situation behinderter Menschen in der Pandemie – zwischen realen Risiken und Ausgrenzung“ auf, führte sie weiter aus und übertrug diese auf die Situation von Menschen mit Behinderung, die ebenso wie alte Menschen als Risikogruppe definiert werden. Maskos ging auf die ausgrenzende, stigmatisierende Wirkung des Begriffs „Risikogruppe“ ein, der die Zugehörigkeit zu einer Minderheit der Gesellschaft impliziert und zuschreibt. Tatsächlich besteht „die Risikogruppe“ bei Betrachtung und Einbezug aller Kriterien aber aus circa 40% der Bevölkerung und ist damit alles andere als eine verschwindende Minderheit, ebenso wie mindestens 10% der deutschen Bevölkerung mit einer amtlich anerkannten (Schwer-)Behinderung leben, also ungefähr 8 Millionen Menschen betroffen sind. Hier wird also der Schutz der Risikogruppe gegen die Bedürfnisse der scheinbar „Normalen“, der „Allgemeinheit“, abgegrenzt und ausgespielt gegen die Bedürfnisse „der anderen“. Bereits überwunden gemeinte Glaubenssätze über Menschen mit Behinderungen erwachen in diesem Zusammenhang und vor allem auch in der Impfverordnung wieder zum Leben, nach dem Motto „die leben doch eh alle im Heim“. Falsch, die meistens Menschen mit Behinderung leben selbstbestimmt, z.T. mit Assistenz oder ihren Familien in den eigenen vier Wänden. Sie und ihre Bedürfnisse wurden aber in vielen Coronamaßnahmen sowie in der Impfverordnung zunächst schlicht übergangen und vergessen. Maskos sieht darin einen massiven Rückschritt von Inklusionsbemühungen in den letzten Jahren und eine unterschwellige Behindertenfeindlichkeit (Ableismus).

Dieser Einschätzung kann ich mich aus meinen Erfahrungen und Gesprächen mit Klient:innen und Angehörigen von Menschen mit Behinderung im vergangenen Jahr als Teilhabeberaterin leider nur anschließen. So bleibt mir an dieser Stelle nur, an eure Wachsamkeit zu appellieren, denn wo Menschenleben nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen beurteilt werden und ihnen Wert und Würde als Mensch abgesprochen wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu menschenverachtenden Gewaltakten gegen diese „anderen“, siehe den Mord an vier Menschen mit Behinderung in einer Potsdamer Einrichtung im April.

Im Rahmen eines Seminars unter Leitung von Frau Prof. Dr. Petra Brzank besuchten einige Studierende des Studiengangs “Gesundheits- und Sozialwesen” im März online den Kongress “Armut und Gesundheit”, der jährlich von der Public Health Organisation veranstaltet wird.

Archiv